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Impuls zum 9. Juli

Zum 14. Sonntag im Jahreskreis

Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster

Ruhe finden
Was für ein Spektakel: Alles wird zur Verfügung gestellt: Flugzeuge, Schiffe, technisches Gerät, um ein paar Milliardäre bei ihrer Luxustauchfahrt zu retten, in den Medien vielfach die erste Meldung über Tage. Zur gleichen Zeit versinkt ein Schiff mit Hunderten von Flüchtenden vor den Augen der europäischen Grenzwache. Schiffe, die Menschen aus Seenot im Mittelmeer retten wollen, werden kriminalisiert, kaum einer Meldung wert. Krasser kann man die strukturelle Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit unserer Weltgesellschaft nicht darstellen. Trotzdem oder gerade deswegen: 

Ja, es ist richtig und wichtig, sich für mehr Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, das Klima, zu engagieren. Ja, es ist richtig und wichtig, sich gegen Krieg und Gewalt und für gewaltfreie Konfliktlösung einzusetzen. Das gilt für alle, die sich auf diesen Jesus berufen, im persönlichen Bereich, in Kirche und Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Aber das Evangelium ist nicht zuerst Auftrag zum Handeln, sondern zuerst Angebot, Einladung, Geschenk, Frohe Botschaft. Vielleicht haben wir das in der letzten Zeit zu wenig wahrgenommen:

In jener Zeit sprach Jesus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch ausruhen lassen und erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht. (Mt 11,25-30)

„Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!“ Wer hätte da nicht etwas mitzubringen an Last, an Fragen, an Müdigkeit, an Enttäuschung, an Unruhe, an Trauer. Wie oft weichen wir davor aus! Wir wollen uns das nicht eingestehen. Es stört unser Selbstwertgefühl. Wir möchten lieber die Starken und Glücklichen sein. So versuchen wir die Brüche in unserem eigenen Leben, die Enttäuschungen zu überdecken, nicht nur nach außen, um unser Ansehen, unsere Fassade zu bewahren, sondern auch nach innen, vor uns selber. Wir fliehen vor ihnen, vor den dunklen Seiten, den Schatten in uns. Auch manche krankhafte Aktivität, manche Karriere, manche Sucht kann eine solche Flucht sein. Aber so sind wir nicht offen für Jesu Botschaft, für seinen Trost, gerade inmitten all dessen, was uns niederdrückt. Das gilt auch für unsere Enttäuschungen, unseren Frust, unsere Trauer, unseren Ohnmachtserfahrungen in all unserem nötigem Engagement.

Denn: Wer braucht keinen Trost? Nur die Weisen und Klugen, die Selbstherrlichen und Selbstsicheren, die meinen, alles selber schaffen zu können. Sie brauchen keinen Trost, jetzt noch nicht, erst wenn sie merken, dass alles, was sie sich an Geld oder Macht oder anderen Drogen verschaffen und sich leisten können, ihren Hunger nach Leben nicht stillen kann. Aber ob sie dann noch demütig genug sind, sich als trostbedürftig zu verstehen und Trost anzunehmen? 

Die Frommen meinen, dass Gott sie bestätigt und die Sünder dem verdienten Gericht zuführt. Sie wähnen sich auf der sicheren Seite und gehören so zu den „Weisen und Klugen“, die keinen Trost brauchen und denen die Güte Gottes so verborgen bleibt. Oft halten sie sich selber schon für berechtigt, die Verurteilung anderer auszusprechen. In dieses Bild passt Jesus nicht hinein. Er geht ja gerade zu den Sündern und Zöllnern, den Dirnen. Er verurteilt nicht, sondern richtet auf, vergibt, ermöglicht neues Leben. Sein „Gericht“ ist nicht das vernichtende Urteil über das Böse, sondern das „Richtig-Machen“ des Verbogenen. 
Der Glaube lebt vom Blick auf Jesus Christus. Er ist gekommen, um die Unmündigen, die Geplagten und Belasteten zu sich zu rufen. Er will ihnen die Last abnehmen, die Last eines verpfuschten Lebens, das Stöhnen unter den Geboten, die Angst vor Gott. Er ruft alle zu sich, die an ihren Enttäuschungen und bitteren Erfahrungen zerbrechen, die nicht mehr mitkommen, die sich abgeschoben fühlen. Sie sind angenommen. Sie werden Ruhe finden. 

„Ruhe“ – das ist nicht ein Bild der Friedhofsruhe, sondern ein Bild erfüllten Lebens, das an sein Ziel gekommen ist. „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir!“ sagt Augustinus. Er wird uns „erquicken“, wie es die neue Einheitsübersetzung sagt, erquicken – neu quicklebendig machen. 

Der äußerste Fall: Ich höre dieses Evangelium auch im Blick auf jene Menschen, die in ihrer Verzweiflung keinen anderen Weg gesehen haben, als ihr Leben selber zu beenden. Immer wieder habe ich dieses Evangelium bei ihrer Beerdigung gelesen. Manchmal hatte ich auch vorher Kontakt zu ihnen, sah das Ende kommen und konnte aber nichts mehr dagegen tun. Mancher „Selbstmord“, wie wir diese Verzweiflungstat unzutreffend nennen, ist nichts als ein Schrei nach Leben, ein Schrei nach Liebe, oft gerade ein Schrei nach diesem Gott, der einen auch mitten in der Verzweiflung annimmt und die Last des Lebens abnimmt. Das gilt für den erfolgreichen Geschäftsmann, der von seinen Drogen nicht loskommt, wie für den arbeitslosen Jugendlichen, der nach seinen vergeblichen Versuchen, einen Ort für sich zu finden, keine Zukunft mehr sieht.  Das gilt für jene, die in der schwarzen Nacht ihrer Depressionen kein Licht mehr erkennen. Ich könnte dafür Namen nennen. Ich bin mir in meinem Glauben und in meiner Hoffnung sicher, dass ihnen diese Worte Jesu gelten. 

Dieses Evangelium gilt aber auch den Angehörigen dieser verzweifelten Menschen. Sie fragen sich nach ihrer Schuld, nach ihrem Anteil an dieser verzweifelten Tat, ob sie die Not richtig wahrgenommen haben, ob sie dem/der Verzweifelten genügend nahe waren. Ich kann diese quälenden Fragen gut verstehen. Aber auf sie gibt es in der Regel keine Antwort. Auch sie dürfen das Wort für sich hören: Kommt alle zu mir, die ihr geplagt und beladen seid, ihr werdet in euren Herzen Ruhe finden!

So gilt dieses Wort uns allen, wo wir uns am Ende fühlen, wo wir keinen Ausweg mehr sehen. Es ist ein lösendes und erlösendes Wort für uns alle. Sind wir bereit, alle Selbstrechtfertigungsversuche hinter uns zu lassen und dieses Angebot für uns anzunehmen? 

Dann können wir uns auch vom Verhalten Jesu inspirieren lassen. Er befreit uns von einer krampfhaften Leistungsreligion vor Gott, auch von der krampfhaften Leistungsreligion unserer Gesellschaft. Er befreit uns zu einem Leben, das sich selbst nicht zu sichern braucht und deswegen für andere dasein kann. Wir können selber zu Menschen werden, bei denen andere ihre Lasten ohne Angst ablegen können, wo andere ihre Ruhe finden können inmitten aller Hetze und Aussichtslosigkeit, in aller Betäubung oder Trauer ihres Lebens. Wenn wir selbst gelassener, vertrauensvoller mit unserer eigenen Not umgehen können, dann können wir auch gelassener der Not, den an dieser Not Leidenden zuwenden, sie nicht damit allein lassen, weil sie von Gott nicht alleine gelassen sind. Durch unser Denken und Handeln dürfen wir die Einladung weitergeben und konkret werden lassen. Das wiederum ist sein Geschenk!

Um es konkret zu sagen, auch wenn es schwer fällt und eine Zumutung ist: Dies gilt auch für die Leiden, die der Ukrainekrieg und die Kriege anderswo mit sich bringen, für die Toten auf beiden Seiten, für die Angehörigen, auch für die Flüchtenden, die im Mittelmeer ertrinken, für alle, die in Angst leben. „Kommt alle zu mir. Ich will euch Ruhe schenken!“ Das ist keine Bagatellisierung des Leidens, sondern gerade das Ernstnehmen der Worte Jesu und seiner Verheißung in ihrer ganzen Tragweite, zugleich Einladung an uns zur Empathie mit den Opfern, zur compassion, zum Gedenken, zur Solidarität, zur Hilfe, Einladung zum Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden so intensiv wie möglich mit unseren schwachen Kräften, Anlass zum Gebet. Ich kann diese Worte Jesu nur dann für mich annehmen, wenn ich wenigstens versuche, sie weiterzugeben. 

Wir dürfen dankbar sein, dass wir uns vor Gott und voreinander nicht mit unserer Last verstecken brauchen, dass wir traurig und niedergeschlagen sein dürfen, nicht immer den starken Mann, die starke Frau markieren müssen, sondern angenommen sind und annehmen können. Christliche Gemeinde ist der Raum, wo gestörte Menschen ihre Ruhe finden, Menschen und Gott, von denen sie angenommen sind. Das können wir uns gegenseitig schenken und auch die einbeziehen, zu denen jede und jeder von uns Kontakt hat. Da gibt es keine Grenzen, wie Jesus keine kannte.

Wenn auch unser Leben zu scheitern und zu zerbrechen droht: Hier wird uns gesagt, dass Gott auch die Scherben unseres Lebens aufnimmt und sie wieder zusammenfügt, damit daraus ein Ganzes wird. Vielleicht hilft diese Hoffnung, dieses Vertrauen auch dazu, in den Erfahrungen unserer Ohnmacht nicht sauer zu werden und zu verzweifeln, aber dennoch am Ball zu bleiben. Das gilt auch in unserer letzten Stunde: Wir dürfen unser sterbendes Leben hineingeben in seine Hand. Er kann daraus ein neues Leben machen, unser neues Leben. Wir nennen das: Auferstehung. Etwas von dieser Auferstehung können wir aber jetzt schon mitten in unserem Leben erfahren und feiern, dort, wo wir wieder neuen Mut und Kraft schöpfen, wo uns etwas gelingt, wo wir neu aufatmen, wo wir Trost annehmen oder auch anderen weitergeben können. Auch das ist seine Einladung, sein Geschenk.

Hören wir noch einmal in Stille seine Einladung an uns: „Kommt alle zu mir, die ihr geplagt und beladen seid. Ich werde euch ausruhen lassen.“  

Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen.
Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Meine Lebenskraft bringt er zurück.
Er führt mich auf Bahnen der Gerechtigkeit, getreu seinem Namen.
Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil;
denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.
Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.
Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, übervoll ist mein Becher.
Ja, Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang
und heimkehren werde ich ins Haus des HERRN für lange Zeiten.
(Ps 23)